Wo jung und alt sich begegnen

Das Studentinnenheim Sonnegg in Zürich will den Dialog nicht nur unter Jugendlichen fördern, sondern auch zwischen den Generationen, so weit sie auch auseinanderliegen mögen. Zweimal pro Jahr – im Sommer und vor Weihnachten – organisiert das Leitungsteam von Sonnegg zusammen mit den Studentinnen ein Fest für ältere Menschen.

Die Mädchen vom Club Oberstrass

Den Altersrekord hält diesmal Lilly (93); vor ein paar Jahren war es noch die 100-jährige Agnes, die unterdessen nicht mehr unter uns weilt. Lilly führte 30 Jahre lang in der Zürcher Altstadt einen Coiffeursalon und sagt, sie sei noch ganz fit, ausser dass sie ein paar Mal gestürzt sei. Sie lebt in einer Alterswohnung und hat weniger Kontakt zu jungen Menschen. Am Fest von Sonnegg unterhält sie sich prima mit der jungen, französisch sprechenden Mila – so sehr, dass sie sie nach dem Fest ihre neue Freundin nennt. Mila möchte sie einmal auf eine Schifffahrt einladen.  

600 Franken verdient – im Jahr

Die Mädchen vom Club Oberstrass

Maria (85) aus Portugal hat – solange sie sich zurückerinnern kann – als Krankenschwester gearbeitet und in jungen Jahren bloss 600 Franken im Jahr verdient; kaum genug, um ihre Wohnung zu bezahlen und die Kinder grosszuziehen. Die Arbeit habe sie aber jung erhalten, erzählt sie Pia. Heute kommt sie zum ersten Mal nach Sonnegg und hat ihre liebe Mühe, uns wieder zu verlassen. Wir packen ihr zwei selbstgebackene Kuchenstücke ein, die sie im Altersheim unter ihren Tischgenossinnen verteilen möchte. Rita ist trotz ihres ansehnlichen Alters noch rüstig und reist in der Welt herum, um sich sozial einzusetzen. Sie besucht unser Fest seit Jahren und nimmt dabei immer ihre Gedichtemappe mit, aus der sie ihre selbstgeschriebenen Gedichte vorliest. Eines davon ist tief symbolisch: „Weg von mir, Weg zu Dir“. Leider fehlt diesmal unser Freund Florian mit dem langen weissen Bart. Manchmal taucht er an unserer Hausschwelle auf und bringt aus seinem Schrebergärtchen Gemüse und Früchte mit: „für die lieben Damen von Sonnegg“. 

Am diesjährigen Sommerfest steht ein kleines Konzert auf dem Programm: Die Studentinnen Esther aus Zürich und Mary aus den USA spielen Stücke auf zwei Violinen vor, unter anderem auch ein lüpfiges irisches, das grossen Anklang findet. Als weiterer Höhepunkt gilt der Auftritt drei kleiner Mädchen vom befreundeten Club Oberstrass, die uns mit ihrem Liederrepertoire erheitern. Mit einem selbstkreierten Matrosensong gewann ihre Gruppe den 1. Preis am diesjährigen Liederfestival in Genf, das von verschiedenen Mädchenclubs der Schweiz organisiert wird.  

Lachen mit neunzig

Nach einer „Schnatter“-Pause mit Kuchen und Kaffee spielen Jung und Alt Graphissimo. Sogar Ursula, die wegen Spina bifida an den Rollstuhl gebunden ist, und Berendina, die sich auf ihren Gehstock stützt, lassen sich zum Zeichnen an der Wandtafel überreden. Statt des zu erratenden Wortes „Frau“ tippt man jedoch auf Zwerg, Landstreicher oder Vogelscheuche ... Doch egal, Hauptsache es wird gelacht! Die kleine Franziska zeichnet der merkwürdigen Gestalt noch rasch ein paar lange Haare an den Kopf, so dass man erkennen soll: Das ist nun wirklich eine Frau! 

Über fernöstliche Sprachbarrieren hinweg

Die chinesische Informatik-Studentin Yanyan spricht Englisch und Chinesisch, nur wenige Brocken Deutsch. Sie nimmt aber trotzdem immer an unserem Fest teil. Die Sprache ist hier zum Glück nicht das Wichtigste. Viel wertvoller sind die gute Einstellung und die Bereitschaft, sich einen Nachmittag für ältere Menschen Zeit zu nehmen. Yanyan zeigt uns Fotos aus ihrer Jugend und von ihren Eltern und Verwandten, die in China leben. Fotos überwinden Sprachbarrieren! Da wird gelacht und gescherzt, auch wenn man die Sprache nicht beherrscht. Auch die andere Chinesin, Maria Li, spricht kein Deutsch. Sie unterhält sich auf Englisch mit der Seniorin Marie-Therese, die intellektuell gefordert sein will und gerne Fremdsprachen praktiziert. Nach unserem Sommerfest steht jedenfalls fest: sie will demnächst nach China reisen... 

Zu schnell ist die Zeit vorbei, und einzelne Seniorinnen werden per Auto in ihr Zuhause zurückgefahren. Alexandra fährt Lilly in ihrem „frechen“ hellbauen Auto nach Hause; so macht die Heimfahrt mehr Spass. Mayca und Mila besuchen anschliessend die über 90-jährigen Dora und Florian zu Hause. Da dieser kürzlich vor seiner Haustüre stolperte und geradewegs auf das Gesicht fiel, konnte er nicht zum Fest anreisen. So werden die beiden diesmal zu Hause besucht und mit unseren Zitronen- und Schoggikuchen beglückt.  

Beim Abschiedwinken wissen unsere Besucherinnen: Zum Glück gibt’s ein Wiedersehen, am Weihnachtsfest im Dezember, mit Weihnachtsguetsli, Weihnachtsliedern und einer kurzen stimmungsvollen Adventsgeschichte. Das ist für uns alle beglückend.