Wahrheit, Freiheit und Fundamentalismus

Wo steht das Opus Dei in der Geschichte des christlichen Freiheitsverständnisses? Wie kommen sowohl Wahrheit als auch Freiheit zu ihrem gesellschaftlichen Recht? – Diese Fragen untersucht der Schweizer Philosoph Martin Rhonheimer in seinem jüngsten Buch „Verwandlung der Welt. Zur Aktualität des Opus Dei“.

Weshalb haben Sie sich des Themas „Wahrheit und Freiheit“ angenommen?

Weil die Meinung verbreitet ist, der gesellschaftliche Pluralismus sei mit der Festigkeit des kirchlichen Lehramtes in Glaubensfragen nicht zu vereinbaren. Ich untersuche die Frage der Vermittlung von Freiheit und Wahrheit, näherhin der Beziehung zwischen dem Schutz der persönlichen Freiheit und den so genannten „Rechten der Wahrheit“, und ich gebe meine Antwort darauf. Bezüglich dieses Fragenbereiches denken manche, das Opus Dei propagiere eine Art Rückkehr in die Vergangenheit. In Wirklichkeit weist sein Charisma gerade in die entgegengesetzte Richtung. Um dies aufzuzeigen, situiere ich den Geist des Opus Dei im Kontext der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit und die Säkularität des Staates.

Weshalb tun sich immer noch manche schwer, die Autonomie der Leute vom Opus Dei zu verstehen?

Das liegt daran, dass in bestimmten Kreisen noch immer eine klerikal geprägte Mentalität weiterlebt, die nicht versteht, dass Menschen nach einem gemeinsamen geistlichen Ideal streben und gleichzeitig ihre ganze Freiheit und persönliche Verantwortung behalten können.

Gemäss dieser Mentalität müssen Katholiken nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch in ihrem vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Engagement den Weisungen von kirchlichen Vorgesetzten unterstellt sein. Diese Sicht ist Klerikern und insbesondere Ordensleuten eigen, und für ihre eigene Stellung in der Kirche ist sie auch legitim. Sie darf aber nicht auf gewöhnliche Weltchristen angewandt werden. Um das Handeln der Gläubigen der Prälatur Opus Dei zu verstehen, genügt es zu wissen, dass sie katholische Gläubige wie alle anderen sind.

"Die Mitglieder des Werkes haben es nicht nötig, in die weltlichen Gegebenheiten einzudringen, denn als gewöhnliche Bürger waren sie wie alle anderen schon immer darin." Josefmaria Escrivá, Gespräche ... Nr. 66

Gewisse christliche Haltungen werden heute bisweilen als „fundamentalistisch“ bezeichnet.

Im dritten Kapitel meines Buches frage ich mich, was es heißt und welche praktischen Konsequenzen es hat, „dass zwar jeder Christ frei und in eigener Verantwortung in Politik und Gesellschaft handeln solle, und zwar in Respektierung der legitimen Autonomie der zeitlichen Ordnung, gleichzeitig jedoch dazu angehalten sei, sich treu und gehorsam an das zu halten, was die Kirche in diesen Fragen für das christliche Gewissen verpflichtend lehre“.

Nach meinem Dafürhalten ist der „Fundamentalist“ oder „Integralist“ jener Christ, für den der Staat nicht nur für ein geordnetes und gerechtes Zusammenleben unter den Menschen zu sorgen hat, sondern auch mittels Gesetzeszwang die Gesamtheit der moralischen und religiösen Wahrheit durchsetzen und die Gesellschaft entsprechend ordnen sollte. Fundamentalistisch ist, wer nicht unterscheidet zwischen der politischen Ebene und der Ebene umfassender religiöser Wahrheitsansprüche. Wer diese Unterscheidung nicht zu vollziehen bereit ist, hat keinen Begriff vom säkularen, laikalen Staat – im Sinne des konfessionell neutralen, nicht des laizistischen Staates –, ja er vermag nicht einmal die Kirche selbst zu verstehen, die heute ja selbst den säkularen und laikalen Charakter der politischen Gewalt verteidigt.

Gegenwärtig ist das von besonderer Wichtigkeit, denn wir stehen vor der Herausforderung des Islams und seiner Staatsauffassung, die in die integralistische Richtung weist. In diesem Kontext – und gerade auch für eine gelungene Integration muslimischer Einwanderer und Mitbürger – fällt uns die Aufgabe zu, die christlichen Wurzeln der modernen Säkularität zu verteidigen, die ja während langer Zeit in der Vergangenheit nicht einmal von den Christen bzw. der Kirche selbst erkannt wurde. Der Weg bis zur vollen Erkenntnis dieser Wurzeln war ein langer und mühseliger Prozess. In meinem Buch versuche ich, ihn nachzuzeichnen und daraus einige Schlussfolgerungen zu ziehen.

Welche Bedeutung hat in diesem Kontext der Geist des Opus Dei?

Innerhalb dieses Prozesses ist der Geist des Opus Dei, wie er von seinem Gründer überliefert worden ist, ein stimulierender Faktor zu Gunsten der „christlichen Säkularität“, die meiner Ansicht nach nur möglich ist innerhalb einer Gesellschaft, in der sich die Ansprüche der Wahrheit und diejenigen der Freiheit gegenseitig anerkennen und respektieren. Er zielt auf eine Welt, in der die erlösende Wahrheit Jesu Christi die Gesellschaft und die weltlichen Strukturen spirituell bereichert, und zwar nicht gleichsam von oben durch politische Zwangsmittel, sondern „von unten“, durch die gelebte Einheit zwischen Glaube und täglicher Arbeit – eine tiefe und kompakte Lebenseinheit von Menschen, für die das alltägliche Leben eine Begegnung mit Gott ist und die deshalb ihren Alltag in Freiheit und persönlicher Verantwortung als Teilhabe an der priesterlichen Sendung Christi zu leben wissen.

Interview: Beat Müller

Martin Rhonheimer: Verwandlung der Welt. Zur Aktualität des Opus Dei. Adamas Verlag, Köln 2006, 174 Seiten. ISBN 3 937626 04 2.

Zürich