Schauen auf das Kreuz

Der Karfreitag aller Zeiten und der letzte Karfreitag Johannes Pauls II. im Jahre 2005 – betrachtet von Josef Arquer

Seit dem ersten Karfreitag der Geschichte schauen Menschen auf das Kreuz. Damals auf Golgota waren es die Vorübergehenden, die den Gekreuzigten verspotteten, und die lüstern Stehengebliebenen, die ihren Triumph feierten. Die Mutter Jesu, die anderen Frauen und der Lieblingsjünger Johannes haben im Herzen mitgelitten, als sie das unerträglich Grausame sahen, das da geschah.

In der Karfreitagsliturgie ist das Schauen auf das Kreuz zur Verehrung geworden: Das Kreuz wird als Zeichen des Heils und der Erlösung über die Gemeinde erhoben und uns zum ehrfürchtigen Gruß hingehalten. Es ist wie ein österliches Wetterleuchten, ein Ahnen des Unfassbaren, wenn wir in diesem Galgen des Todes den Baum des Lebens erkennen und preisen. Der Priester singt dreimal: „Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt“, und enthüllt es Balken für Balken. Das Volk ruft dann: „Kommt, lasset uns anbeten“.

Überall auf der Welt ist das Kreuz präsent in millionenfachem Leid – in eigenem Leid, in der Not unserer Lieben, in Krankheit, Behinderung und Einsamkeit, in Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Verfolgung, in Katastrophen, Hunger und Krieg... Wer dem Kreuz so begegnet wie die Vorübergehenden von damals, mag in Jesu ausgebreiteten Armen nur eine Geste verzweifelter Ohnmacht sehen. Wer vom Glauben getragen ist, wird darin den Ausdruck von Jesu Liebe, Vergebung und Versöhnung erkennen und kann das eigene Leiden in diese Umarmung hineingeben. Ja, der Gekreuzigte nimmt auch das Leiden der Unzähligen in seine Arme, denen er ein Unbekannter ist, wie uns die Kirche kraft ihrer Heilssendung lehrt.

Das Schauen auf den Gekreuzigten schafft das Leid der Welt nicht ab, es löscht nicht die Not des Einzelnen. Auch liefert keine einsichtige Erklärung für das „Warum“. Dem bloßen Verstand bleibt das Leiden rätselhaft. Aber das christliche Herz kann empfinden, was Paulus sagt: „Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Kol 2,20).

Angesichts der eigenen Not wie der Not der Vielen beginnen wir zu ahnen und dafür zu danken, dass unser Glaube – unser Leben – jenseits des Abgrundes auf dem Halleluja von Ostern gründet und nicht auf dem vordergründigen Hosianna des Palmsonntags. In diesem Sinne schreibt Papst Benedikt XVI. im neuen zweiten Band seines Buches „Jesus von Nazareth“: „Immer wieder muss Jesus uns neu zu erkennen helfen, dass die Macht Gottes anders ist, dass der Messias durch Leiden hindurch in die Herrlichkeit eingehen und in die Herrlichkeit führen muss.“

Die stumme Karfreitagspredigt vor sechs Jahren

Was Leiden und Kreuz sind, hat uns vor sechs Jahren der sterbende Johannes Paul II. mit seinem stummen, allen sichtbaren Leiden vorgelebt und verkündet. An diesem Karfreitag 2011 trennen uns wenige Tage vor seiner Seligsprechung.

Dieser Papst hat uns gelehrt, wie das Leiden einen Sinn erhält, wenn es mit dem Leiden Jesu verbunden ist. So konnte Johannes Paul in seinem letzten Buch „Erinnerung und Identität“ aus eignem Erleben schreiben: „Das Leiden des gekreuzigten Gottes ist nicht nur eine Form des Leidens neben den anderen… Christus hat, indem er für uns alle litt, dem Leiden einen neuen Sinn verliehen, er hat es in eine neue Dimension erhoben, in eine neue Ordnung eingeführt: in die Ordnung der Liebe… Die Passion Christi am Kreuz hat dem Leiden einen radikal neuen Sinn verliehen, es von innen her verwandelt… Es ist das Leiden, welches das Böse mit der Flamme der Liebe verbrennt und aufzehrt… Jedes menschliche Leiden, jeder Schmerz, jede Gebrechlichkeit birgt eine Verheißung des Heiles… in sich. … All dieses Böse existiert in der Welt auch, um in uns die Liebe zu erwecken, die eine Selbsthingabe ist… im… Dienst an denen, die vom Leiden heimgesucht sind… Christus ist der Erlöser der Welt: ›Durch seine Wunden sind wir geheilt‹ (Jes 53,5).“

In die Passion Christi eintreten

Wenige Woche vor dem Tod Johannes Pauls II. sagte der damalige Kardinal Ratzinger: „Wir haben vom Papst sehr viele Worte geschenkt bekommen, eine große Botschaft. Eine andere Botschaft ist, dass er nun in die Passion Jesu Christi mit eintritt; und das zeigt, wie Leiden fruchtbar ist als Mittragen mit dem Herrn, Mittragen mit den vielen Leidenden dieser Welt, denen sichtbar wird: Leiden hat Sinn, Leiden kann etwas Positives sein. Insofern, glaube ich, ist das, wenn man das Ganze seines Papstlebens und -wirkens betrachtet, eine Botschaft, die gerade in dieser Welt wichtig ist, in der man das Leiden abschaffen will, das man eben nicht abschaffen kann.“

In seiner letzten Karfreitagsbotschaft 2005, die zu Beginn des Kreuzwegs im Kolosseum in Rom erreichte verlesen wurde, machte sich der todkranke Papst die Worte des Paulus zu eigen: „Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1, 24). Lassen wir die Worte das Jahres 2005 an diesem Karfreitag 2011 erneut auf uns wirken:

„Ich vereinige mich mit euch in der so bedeutungsreichen Anrufung Adoramus te, Christe, et benedicimus tibi, quia per sanctam crucem tuam redemisti mundum. Ja, wir beten an und preisen das Kreuzesgeheimnis des Sohnes Gottes, denn gerade aus diesem Kreuz ist für die Menschheit eine neue Hoffnung erwachsen. – Am Gedenktag des gekreuzigten Christus schaue ich mit euch auf das Kreuz, bete es an und wiederhole die Worte der Liturgie: O crux, ave spes unica! Heiliges Kreuz, unsere einzige Hoffnung, schenke uns Geduld und Mut und erlange der Welt den Frieden!“