Kolumbus und Escriva

Josemaría und seine ersten Gefährten erinnern mich in gewisser Weise an die Konquistadoren: junge Leute, die begeistert, frisch und unverbraucht so etwas wie eine geistliche Abenteuerlust verspüren; deren Herz zu Entdeckungsreisen bereit ist, und die sich im Vertrauen um ihren Führer, den »Vater«, scharen.

Josemaría und seine ersten Gefährten erinnern mich in gewisser Weise an die Konquistadoren: junge Leute, die begeistert, frisch und unverbraucht so etwas wie eine geistliche Abenteuerlust verspüren; deren Herz zu Entdeckungsreisen bereit ist, und die sich im Vertrauen um ihren Führer, den »Padre«, scharen, um mit ihm in unbekannte Länder aufzubrechen, auf Wegen, die erst gebahnt werden müssen, wo Gefahren drohen und mancher auf der Strecke bleibt: und diese unbekannten Länder liegen nicht in nebelhaften Fernen, sind keine sagenhaften Inseln, sondern ganz nah, der Grund und Boden, darauf man selber steht, das Umland, wo die Nachbarn und Kollegen und Mitbürger ihr Leben leben – und doch Neuland, doch Terra incognita! Denn obwohl die Kirche seit eintausendneunhundert Jahren als der millionengliedrige mystische Leib des Herrn in der Menschheitsgeschichte fortlebt und -wirkt, hat die Durchtränkung der Welt mit der Fülle Christi, so scheint es, jetzt einen entscheidenden, neuen und lebensstarken Anstoß erfahren. Gewiß, solche Anstöße – »renovierende« und »innovierende« – hat es in der Kirchengeschichte, auch in der neuzeitlichen und nachreformatorischen, immer wieder gegeben. Gewaltig war die geistliche und lehrende Kraft der Tridentinums und seiner Folge-Epoche. Welch stattliche Zahl großer Heiliger im Zeitalter der Gegenreformation und auch im 18. und 19. Jahrhundert! Und die Romantik in Europa – ist sie nicht zum guten Teil auch eine ›renovatio catholica‹ gewesen? Dennoch müssen wir, so scheint es, eine Tatsache klar erkennen: das vergangene Halbjahrtausend mit Renaissance, Humanismus, Reformation, Aufklärung, den Sozialismen – ganz unbeschadet ihrer Wertung oder ihrer Bedeutung im göttlichen Heilsplan – hat gelehrt, ja bewiesen, daß jene »Durchtränkung der Welt mit Christus« viel geringer gewesen sein muß, als man aufgrund der christlichen Kulturzeugnisse anzunehmen geneigt war.

Zu den härtesten, aber auch notwendigsten Erkenntnissen, die das zwanzigste Jahrhundert den Christen, die nicht länger schlafen, sondern aufwachen wollen, gebracht hat, gehört die Erkenntnis, daß »christliche Kultur« mit Domen, Klöstern, Schnitzwerken, Bildern, Literatur, mit Sitten, Bräuchen, Gewohnheiten eine Sache und die persönliche Heiligkeit der Christen, die Christusförmigkeit der einzelnen Seele eine andere ist und daß beides nicht nur nicht Hand in Hand zu gehen braucht – nein, mehr: daß sogar die Herrlichkeit und Größe christlicher Kultur als Alibi und Kompensation für ungenügende personal-inkarnierte Christusnachfolge stehen können; daß, mit einem Wort, die »Kultur« die »Heiligkeit« ersticken kann. Das allgemeine Bewußtsein unterscheidet dann nicht mehr zwischen beiden.

Vor diesem Hintergrund gewinnen Escrivá, seine Botschaft und das Opus Dei ihre volle historische und heilsgeschichtliche Dimension: mit der Schönheit und dem Reichtum christlicher Werke und Wege, denen die Besonderheiten, das Spezielle und Außerordentliche das Gepräge geben – und all dies verherrlicht selbstverständlich Gott, und wir dürfen und sollen es lieben und bewundern –, muß die Durchknetung der Welt mit der Wirklichkeit Christi durch Alltagsmenschen, die nach Heiligkeit streben, im Alltag, der Stätte und Mittel der Heiligung ist, Schritt halten. »Das ist der Wille Gottes: euere Heiligung!« (1 Thess 4,3) Und hierin stehen wir nach wie vor am Beginn – aber nicht nur das: wir haben einen gewaltigen Nachholbedarf. Was damit gemeint ist, erklärt Josemaría Escrivá de Balaguer in einer berühmt gewordenen Ansprache, die er am 8. Oktober 1967 vor Studenten, Professoren, Bediensteten und Förderern der Universität von Navarra in Pamplona hielt: »Macht euch mit neuer Klarheit bewußt, daß Gott euch aufruft, ihm gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns. Seid davon überzeugt: jede noch so alltägliche Situation birgt etwas Heiliges, etwas Göttliches in sich, und euch ist aufgegeben, das zu entdecken.« Entdecken wir das nicht, dann »wird« – um mit den Worten Escrivás zu sprechen – »das Gotteshaus zum einzigen wahren Standort des christlichen Lebens. Christsein bedeutet dann, zur Kirche zu gehen, an sakralen Zeremonien teilzunehmen und sich in einer kirchlich geprägten Umgebung abzukapseln, in einer isolierten Welt, die sich als Vorhalle des Himmels darstellt, während die gewöhnliche Welt draußen ihre eigenen Wege geht. Die Lehre des Christentums und das Leben der Gnade würden dann den mühsamen Gang der menschlichen Geschichte nur streifen, ihm jedoch niemals wirklich begegnen.«

Vom Gründer des Opus Dei selbst wissen wir, daß dies, genau dies und nichts anderes, der Kern dessen war, was er schon neununddreißig Jahre zuvor verkündet hatte: »Den Studenten und Arbeitern, die ich in den dreißiger Jahren um mich sammelte, pflegte ich zu sagen, sie müßten lernen, das geistliche Leben zu materialisieren. Ich wollte sie damit vor der damals wie heute so häufigen Versuchung bewahren, eine Art Doppelleben zu führen: auf der einen Seite des Innenleben, der Umgang mit Gott, und auf der anderen Seite, säuberlich getrennt davon, das familiäre, berufliche und soziale Leben … Wenn wir Christen sein wollen, können wir diese Art von Bewußtseinsspaltung nicht mitmachen; denn es gibt nur ein einziges Leben, welches aus Fleisch und Geist besteht, und dieses einzige Leben muß an Leib und Seele geheiligt und von Gott erfüllt werden, dem unsichtbaren Gott, dem wir in ganz sichtbaren und materiellen Dingen begegnen. Es gibt keinen anderen Weg. Entweder lernen wir, den Herrn in unserem alltäglichen Leben zu entdecken, oder wir werden ihn niemals finden.«

Mit dieser Entdeckung hat es eine eigene Bewandtnis: man kann sie nicht für andere, jeder muß sie selber machen. Als Kolumbus, den West-Weg nach Indien suchend, Amerika fand, hatte er eine einmalige subjektive und eine immerwährende objektive Entdeckung gemacht: die Neue Welt – da lag sie, ein riesiger Schatz an Rohmaterial für menschliche Anstrengungen, Kämpfe, Opfer, für Siege und Niederlagen; alles war dort zu leisten, keine Arbeit und kein Leiden, kein Heroismus und keine Untat ausgenommen – nur: zu entdecken war sie nicht noch einmal; seit dem 12. Oktober 1492 ist Amerika für alle Menschen der Erde vorhanden; es war zwar schon immer da, aber nun wissen sie es, und es ist zu diesem Wissen keineswegs erforderlich, selbst hinzufahren und nachzusehen, ob die Kolumbus-Entdeckung wirklich stimmt. Hier liegt der wichtige Unterschied zur geistlichen Entdeckung, die Josemaría Escrivá de Balaguer gemacht hat: daß Gott auf den Menschen in der Welt wartet; daß Er sich von ihm finden lassen will im Alltag eines weltformenden menschlichen Lebens; daß Er ihn zum Mitarbeiter bei der Durchchristung der Welt bestellt und die Art dieser Mitarbeit von Anbeginn an vorgesehen hat, nämlich als die normale Ausübung aller menschlichen, gesellschaftlichen und privaten Tätigkeiten, die nicht in sich sündhaft sind, doch eben sie alle getan in Einheit mit Christus und so Gott dargebracht – diese Entdeckung ist nicht übertragbar. Sie gewinnt Realität allein im »Gemachtwerden«! Anders gesagt: wer nicht selbst aufbricht, um ganz konkret in den »kleinen Dingen« des gewöhnlichen Lebens Christus – den ganzen, also auch den kreuztragenden Christus – zu suchen, zu finden und sich mit ihm zu identifizieren, für den bleibt die bloße Botschaft davon, die bloße Verkündigung Escrivás freilich Abrakadabra.

Der Vergleich zwischen Christoph Kolumbus und Josemaría Escrivá de Balaguer, zunächst nur ein flüchtiger Einfall, erweist sich bei näherem Hinsehen als so anregend, daß es erlaubt sein mag, ihn noch etwas zu vertiefen. Wie wir wissen, war Amerika, ehe es »entdeckt« wurde, schon einige Male, auch von Europa aus, »gefunden« worden. Aber dieses Anlaufen irgendwelcher Wikingerschiffe im 10. und 11. Jahrhundert bewirkte nichts: der Bewußtseinsstand jener Seefahrer, die gesamte geistige und religiöse, ökonomische und soziale Konstellation der Zeit verhinderten, daß aus dem lokalen Geschehen ein universales Ereignis wurde; Menschheit und Christenheit hatten noch keinen »Bedarf« an Neuer Welt; die geschichtliche Stunde, der »kairós« waren noch nicht da, und so wurde die ganze Angelegenheit vergessen, versank ins legendäre Halbdunkel, ähnlich wie die ja einst auch schon einmal bekannt gewesene Kugelgestalt der Erde. Und dabei waren die Leute vor der Entdeckung Amerikas keineswegs untätig in der Erforschung und Inbesitznahme der Welt – aber eben mit anderer Blickrichtung: konzentriert auf Europa, auf die mittelmeerischen Länder, immer nach Osten hin, relativ spät erst auf das mittlere und südliche Afrika … Es bedurfte einer vielhundertjährigen geistesgeschichtlichen, historisch-politischen und ökonomischen Entwicklung Europas, dazu dann noch der besonderen Konstellation des ausgehenden 15. Jahrhunderts, zumal hinsichtlich der iberischen Machtverhältnisse, der kastilisch-aragonesischen Verbindung und vieler anderer Faktoren, damit ein Kolumbus den weltgeschichtlichen Auftrag empfangen und ihn mit Erfolg durchführen konnte. Und dieses Genuesen Lebenslauf ist von seinem Geburtsjahr 1451 an bis zu jenem Freitag, dem 12. Oktober 1492, da um zwei Uhr morgens das Land in Sicht kam – die Küste der dann San Salvador getauften Insel Guanahani –, welches sich als erster Vorposten des Doppelkontinentes Amerika, der »Neuen Welt«, herausstellen sollte, eine einzige Vorbereitung auf seine Mission gewesen. Doch wir wissen heute auch, daß auf der anderen Seite des Atlantik die präkolumbianischen Kulturen am Ende waren. Mit einem Wort: die Zeit war reif.

Was der Vergleich zwischen dem geographischen und dem geistlichen Entdecker meint, liegt auf der Hand. War doch, was Josemaría Escrivá am 2. Oktober 1928 von Gott gezeigt und was dann Inhalt seiner Botschaft und die Wirklichkeit des Opus Dei wurde, auch schon einmal »bekannt«, ja mehr: in den ersten drei Jahrhunderten der Christenheit das – ohne eine Alternative! – Selbstverständliche gewesen. Lange ehe es »Wüstenväter« und »Eremiten« und die ersten Orden und Klöster gab, gab es die Christen in den Städten und Dörfern des weiten Imperium Romanum, die als normale Einwohner dieses Reiches in ihrem jeweiligen Stande – sei es als Grundbesitzer oder als Beamte, als Legionäre oder als Lastträger oder Freigelassene oder Sklaven, als Männer, Frauen und Kinder – ihr normales Leben lebten. Sie kannten und wußten gar nichts anderes, als daß sie in ihm heilig werden, in ihm apostolisch wirken und neue Christen gewinnen mußten. Wo denn sonst als im Alltag? Und wie denn anders als mittels seiner Heiligung? Und die ersten Blutzeugen und die Masse der Hingemetzelten – das waren ja keineswegs Christen mit einem Sonderstatus, sondern ganz gewöhnliche Glieder der christlichen Gemeinden, des »Volkes« …

In einer jahrtausendlangen geschichtlichen Entwicklung der Christenheit und der Kirche ist das Wissen, daß die Welt mit Christus durchtränkt werden muß und deshalb nicht verlassen werden darf und daß diese Durchtränkung in aller Regel nur durch die in der Welt tätig Lebenden und nur in Ausnahmefällen »ab externo« erfolgen kann, immer mehr verdunkelt worden. Gewiß hat es herrliche Blüten christlichen Lebens gegeben, einen unermeßlich großen und liebenswerten Schatz an Heiligkeit, und niemand wird das ekklesiastische und monastische Erbe von anderthalb Jahrtausenden herabsetzen oder missen wollen; aber gerade wer es liebt und erhalten und mit ihm in eine neue Zukunft der Kirche aufbrechen will, der muß wissen, daß dies nur möglich sein wird, wenn die laikale Heiligkeit der Urchristen, die Escrivá als Fundament der christlichen Sendung in der Welt wiederentdeckt, konkretisiert und vorgelebt hat und die das Zweite Vaticanum dann der gesamten Christenheit als verbindlich und zeitlos gültig vor Augen stellte – wenn diese laikale Heiligkeit als Norm allen Christseins neu erkannt und anerkannt wird.

Nicht anders als im Falle des Kolumbus bedurfte es auch für die Sendung Escrivás – für eben jene Wiederentdeckung – der langen geistes- und kirchengeschichtlichen Entwicklungen, einschließlich aller harten Prüfungen, die die Kirche während der letzten fünfhundert Jahre durchmachen und bestehen mußte; bedurfte es der besonderen historischen Konstellationen, wie sie sich im ersten und zweiten Drittel dieses Jahrhunderts innerhalb Spaniens, innerhalb Europas und der Welt und innerhalb der Kirche herausbildeten; bedurfte es, natürlich, vor allem der Bereitmachung des Entdeckers. Davon wurde berichtet. Auch für das Jahr 1928 gilt, was wir für 1492 feststellten: die Zeit war reif … Christoph Kolumbus – Josemaría Escrivá de Balaguer. Zwei Entdecker, im Dienste Spaniens der eine, Spanier der andere. Beide nicht ohne Vorgänger: mehrfach waren schon Seeleute auf Westkurs gegangen, aber widrige Winde, mißliche Umstände zwangen zur Umkehr … Die Erkenntnis, daß Laienapostolat not tat, daß das »Kirchenvolk« aktiviert werden müsse, daß man den Alltag heiligen könne und solle, war auch schon vor der Gründung des Opus Dei immer wieder einmal ausgesprochen und angeregt und auch zu realisieren versucht worden; man denke an den hl. Franz von Sales, an den hl. Vinzenz Pallotti, an die Oxford-Bewegung und Kardinal Newman8, an die Verlautbarungen der Päpste Paul III., Pius VII., Pius IX., Leo XIII. und Pius X. – doch all diese Initiativen drangen nicht zum Kern des Problems vor, weil sie statt des eigenständigen Laien mit eigenständiger Heiligkeit den »Annäherungs-Religiosen« mit quasi-ordenshafter Spiritualität im Auge hatten. Kolumbus – Escrivá: beide wagemutig, furchtlos, felsenfest überzeugt von Gottes Führung, ausdauernd, zu größten Opfern und Anstrengungen fähig und bereit; beide erfüllten, was ihnen aufgetragen war, beide setzten eine gewaltige und erst nach und nach in all ihren Dimensionen, mit all ihren Konsequenzen sich enthüllende Aktivierung menschlicher Potenzen in Bewegung, eine Umwälzung größten Ausmaßes. Beiden fehlte es daher nicht an Feinden: in Ketten gelegt, kehrte der Entdekker der Neuen Welt im Jahr 1500 von seiner dritten Amerika-Reise zurück. Escrivá wurde zu Anfang der vierziger Jahre in Spanien, besonders in Madrid und Barcelona, so sehr als Freimaurer und als Häretiker verleumdet, daß seine Verhaftung drohte und er sich verborgen halten bzw. Decknamen benutzen mußte.

Damit freilich enden die Vergleichbarkeiten, die ihren Ausgang vom Begriff der »Entdeckung« genommen hatten. Während Kolumbus auf die Folgen seiner Tat kaum noch Einfluß nehmen konnte und es zur Fortentwicklung jener von ihm aufgefundenen Neuen Welt seiner nicht mehr bedurfte, lag es gerade im Wesen der »Entdeckung« Escrivás, daß er selbst sie ausbreiten und vertiefen, sie zum gesicherten Gut der Kirche für die Zukunft machen und sie in das allgemeine Bewußtsein heben mußte. Kolumbus starb in der Annahme, den West-Weg nach »Indien« gefunden zu haben; andere machten aus den entdeckten Ländern erst »Amerika«. Josemaría betrat nicht nur als erster das neue Land der laikalen Heiligkeit, sondern er formte ihm auch, mit Gottes Gnade, das Volk, es zu bewohnen, zu kultivieren und auszuweiten.

Auszug aus Opus Dei – Leben und Werk des Gründers Josemaría Escrivá, von Peter Berglar", Adamas Verlag GmbH, Köln, 2005 (4. Aufl.)