In Memoriam Johannes B. Torelló

Johannes B. Torelló (1920 – 2011), langjähriger Rektor der Wiener Peterskirche, war ein begnadeter Prediger und Seelsorger. Am 7. November 2015 wäre er 95 Jahre alt geworden. Seine Betrachtungen „Von Gott zuerst geliebt“ (Fassbaender-Wien 2006) erschienen kürzlich auch auf Spanisch. Im Vorwort erzählt darin sein jahrelanger Begleiter, Prälat Dr. Ernst Burkhart, anekdotenreich von der legendären Predigtkunst und dem reichem Wirken Torellós in Wien.

Als ich ihn 1964 in Wien kennenlernte, war Don Juan Bautista Torelló für mich ein ehrwürdiger Priester. Über vierzig Jahre alt! Das war schier unglaublich, und der Eindruck wurde durch die beachtliche Glatze, die ihn schon damals zierte, noch verstärkt. Die Jahre zuvor hatte er an der Spitze des Opus Dei in Italien gestanden, mit ihm hatte er die apostolische Arbeit in der Schweiz begonnen, und der heilige Josefmaria hatte ihn 1948, knapp nach seiner Priesterweihe, nach Sizilien gesandt, um dort die Fundamente des Opus Dei zu legen und „nebenbei“ am diözesanen Priesterseminar von Palermo als Spiritual zu arbeiten. Er war Doktor der Theologie, dazu Arzt und Psychiater, und gehörte zur „legendären” Gruppe jener Mitglieder, die in den frühen 1940er Jahren in Barcelona bald nach ihrer Aufnahme in das Opus Dei eine heftige Verfolgung seitens einiger Ordensleute hatten durchstehen müssen. Er beherrschte die deutsche Sprache bereits ziemlich gut – seine Kenntnisse stammten aus den Jahren, die er in Zürich verbracht hatte –, so dass er sofort zu der Handvoll junger Leute predigen konnte, aus denen sich das Opus Dei in Österreich damals zusammensetzte.

Seine Betrachtungen waren etwas Besonderes. Er sprach über dieselben Dinge, über die auch die anderen drei oder vier Priester des Werkes sprachen, die es damals in Wien gab – über die Christusgeheimnisse, die das Kirchenjahr vorstellt, über die Berufung zur christlichen Vollkommenheit im Alltag, über Gebet und Opfer, die Heiligung der Arbeit, den Eifer für die Seelen, das Verlangen, Christus an die Spitze alles menschlichen Tuns zu stellen, usw. –, über Themen also, die allesamt irgendwie mit dem Geist des Opus Dei zu tun hatten. Aber seine Betrachtungen, in denen er immer zum Gebet hinführte, waren nicht nur sehr gelehrt und profund, sondern auch sehr anregend und sehr dramatisch. Und sie waren immer sorgfältig vorbereitet.

Er erzählte, dass der heilige Josefmaria einmal zu ihm gesagt hatte: „Juan Bautista, besinn dich einen Augenblick und halte diesen Burschen hier die Betrachtung.” Natürlich hat er gehorcht. Er konnte eine Predigt extemporieren, ohne ein Blatt Papier vor sich zu haben, aber er zog es vor, sie gründlich auszuarbeiten. Auf einem Einkehrtag, zu dem ihn Monat für Monat die Priester eines Dekanats einluden, riss ihm eines Tages die Geduld, weil die geistlichen Herren das logische Stillschweigen in den Pausen nicht einhielten, und in seinem Zorn improvisierte er ein donnernde Betrachtung, die so großartig wirkte, dass die 15 oder 20 Teilnehmer am Schluss in enthusiastischen Beifall ausbrachen. Nie zuvor hatte er dergleichen erlebt.

Das war eine Ausnahme, denn normalerweise bereitete er seinen Predigten und Vorträge gewissenhaft vor. Alles wurde da, Wort für Wort, in winzigen Lettern mit der Hand geschrieben. Diese kleinen Zettel bewahrte er dann in seinen Karteikästen auf, um sie gegebenenfalls später als Karteileichen (das war seine Bezeichnung) wieder verwenden zu können. Er trug die Texte so vor, dass die Leute nicht merkten, dass er las. Er deklamierte mit kräftiger, sonorer Stimme, und die gespannte Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft war ihm jederzeit sicher.

Diese Zuhörerschaft setzte sich einerseits aus Gläubigen des Opus Dei und andererseits aus den Frauen und Männern zusammen, die an den verschiedenen Einkehrstunden oder Besinnungstagen, die er hielt, teilnahmen. Es ist wahrscheinlich unmöglich, die Zahl der Betrachtungen zu berechnen, die er im Lauf seines priesterlichen Lebens gehalten hat, eine grobe Schätzung führt mich zur Annahme, dass es an die 15.000 gewesen sein müssen. Außerdem predigte er an allen Sonn- und Feiertagen in St. Peter, der kleinen Barockkirche im Zentrum Wiens, die den Priestern des Opus Dei 1969 vom damaligen Erzbischof Kardinal Franz König (einem großer Bewunderer Don Juan Bautistas übrigens) anvertraut worden war.

Torelló liebte diese Kirche aus ganzer Seele. Er stand ihr zuerst als Pfarrer vor und später als Rektor. Er kannte perfekt ihre Geschichte – christliche Kultstätte seit der Römerzeit –, und er wusste alles über die Kunstwerke, die sie beherbergt. Er kümmerte sich darum, die alten Paramente und liturgischen Geräte aus der Zeit ihres größten Glanzes ausbessern zu lassen, um sie dann in der Liturgie einzusetzen. Auf sein Geheiß gestaltete der Kirchenchor die Hochämter an den Hauptfesten mit den Messkompositionen der besten Musiker – Haydn und Mozart an erster Stelle –, und durch sein Bemühen fand sich das Geld, um die Schäden am Kirchengebäude nach und nach auszubessern und die Gemälde zu restaurieren. Schon am Beginn seines Wirkens als Rektor hatte Torelló die Krypta ausgebaut und sie in einen weiten, geschmackvollen Raum verwandelt, der besonders im Winter angenehm wohnlich war, wenn man oben in der Kirche vor Kälte zitterte. Auch nachdem „der Doktor Torello” (so nannte man ihn, ohne das “ó” am Ende zu akzentuieren, und er genoss diese Wiener Version seines Namens) die Leitung von St. Peter längst in jüngere Hände übergeben hatte, feierte er dort weiterhin täglich die Heilige Messe bis wenige Monate vor seinem Tod. Man fand ihn „in seiner Kirche” praktisch den ganzen Tag: Stunden über Stunden im Beichtstuhl, beim Gebet oder im Gespräch mit Leuten, die seinen Rat suchten. Ich berechne nicht die Zahl der Homilien, die er in St. Peter gehalten hat. Das kann der Leser selbst tun, wenn er berücksichtigt, dass er dort mehr als vierzig Jahre gepredigt hat.

Diese Homilien waren in ganz Wien berühmt. Ein weiter Kreis von Personen verehrte ihn; andere mieden ihn wegen des eher barocken Stils seiner Rede; aber es herrschte Einigkeit darüber, dass man ihn mit keinem anderen Prediger der Stadt vergleichen konnte. Im Wien des 17. Jahrhunderts bewunderte und fürchtete man gleichermaßen den Kapuzinerpater Abraham a Sancta Clara, der für den Witz und Scharfsinn seiner Ansprachen berühmt war und mit ironischen Seitenhieben auf den kaiserlichen Hof und das dort bisweilen wenig vorbildliche Leben nicht sparte. So mancher dachte, dass trotz des Abstands der Jahrhunderte die Wirkung der Predigten des „Torello von Sankt Peter“ denen des „Abraham a Sancta Clara“ wahrscheinlich irgendwie ähnlich war.

Unabhängig vom Stil, den jedenfalls niemand nachahmen konnte, zeichnete sich seine Predigt – und das gilt in gleicher Weise für die Homilien wie für die Betrachtungen: diesbezüglich gab es da kaum einen Unterschied – durch ihre Dichte aus. Er argumentierte geradlinig, aber die Entfaltung der Ideen, die man trotz aller Theatralik immer gut mitverfolgen konnte, war äußerst originell. Er behandelte Themen, die sich vom Ablauf des liturgischen Jahres her anboten bzw. von den Zeitereignissen oder der Verfasstheit des jeweiligen Auditoriums gefordert waren, verstand es aber, die verschiedenen Facetten des christlichen Lebens mit Anspielungen auf konkrete Vorkommnisse zu würzen und sie aus ungewohnten Perspektiven zu betrachten. So ließ er die unveränderliche Lehre gleichsam in neuer Aktualität erstrahlen und förderte ihre Tiefendimension ans Licht.

Die Reihe von Betrachtungen, die in dem Büchlein, das der Leser in Händen hält, zusammengefasst wurden, bestätigt das Gesagte. Die Art, wie Don Juan Bautista die traditionelle Askese darlegt – man findet kontinuierlich Anspielungen auf den Geist des Opus Dei –, ist oftmals überraschend. Er liebt das Paradoxon. Das einzig Wichtige sind die kleinen Dinge; der Wein der Hochzeit von Kana, für den wir uns fast schämen – wieso setzt der Erlöser seine göttliche Macht nicht für etwas wirklich Wertvolles ein? –, lässt uns begreifen, wie sehr Gott Mensch geworden ist; das Lachen und Weinen des Kindes in der Krippe erlöst uns bereits; die beste Lauterkeit der Absicht ist die Absichtslosigkeit … Auf tausenderlei Weisen bringt er seine Hörer zum Nachdenken und erschließt ihnen das staunenswerte Mysterium eines Gottes, der unser Fleisch angenommen hat, um uns das Heil zu bringen.

Noch eine Bemerkung zur Sprache. Die Betrachtungen von „Er hat uns zuerst geliebt” sind natürlich auf Deutsch gehalten worden. Trotz seines starken katalanischen Akzents beherrschte Torelló die Sprache so gut, dass er sogar deutsche Gedichte verfasste. Wenn er etwas publizieren wollte, war die Erstellung des Manuskripts für die Druckerei während einer Reihe von Jahren meine Aufgabe. Ich schrieb mit der Schreibmaschine, was er auf den erwähnten Zetteln redigiert hatte, auf denen die Abwärtsbewegung des Federstrichs bisweilen erkennen ließ, dass der Verfasser (der nie am Schreibtisch arbeitete, sondern immer im Fauteuil) für einen Augenblick eingenickt war. Es war nicht ganz leicht, die (im übrigen sehr schöne) Schrift zu entziffern. Wenn am Ende alles fertig war, wies ich ihn auf die Stellen hin, bei denen ich mir nicht ganz sicher war, zumal seine poetische Ausdrucksweise sich nicht selten von den Regeln entfernte, die Goethe, Hölderlin oder Nestroy angewandt hätten (letzterer ein Wiener Komödiant des 19. Jahrhundert, den er besonders schätzte). Auch wenn im Deutschen die Neuschöpfung von Worten durch einfache Zusammensetzung von Elementen, die normalerweise nicht nebeneinander stehen, durchaus erlaubt ist, waren seine Erfindungen manchmal so schrullig (“torellisch”, sagten wir im Spaß), dass man sie „eindeutschen“ bzw. unter Wahrung der Intentionen des Autors wenigstens der Diktion Nestroys anpassen musste. Normalerweise akzeptierte er meine Vorschläge, und wir hatten viel zu lachen. Diese literarische Symbiose hat angehalten, solange wir am selben Ort wohnten, und auch später habe ich ihm oft bei der Durchsicht der Druckfahnen für verschiedene Publikationen helfen dürfen.

Die Freunde und Verehrer des Don Juan Bautista hätten gern gesehen, dass er mehr veröffentlichte. Seine Zettelkästen enthielten – und enthalten – ausgesprochene Schätze. In seinen letzten Lebensjahren ist es gelungen, einige davon (wie die Betrachtungen des vorliegenden Bändchens) aus der Versenkung hervorzuholen. Auch wenn ihn die Sache nicht sonderlich begeisterte, war er zur Mitarbeit bereit, erklärte aber, dass eine der Schwierigkeiten, um seine Schriften in Buchform herauszubringen, darin bestand, dass er immer „viele Ideen von anderen Autoren gestohlen” hatte. Da es um mündlichen Vortrag und nicht um schriftliche Veröffentlichung ging, hatte er sie nicht immer zitiert, oft erinnerte er sich nicht mehr, welchen Werken sie entstammten, und in den meisten Fällen hatten sie darüber hinaus in seinem Denken tiefgreifende Umformungen erfahren. Intellektuelle Redlichkeit verbot ihm, diese Quellen zu verschweigen. Eine seiner Erfahrungen war: „Die Inspiration kommt fast immer von außen“. Bei der Lektüre von Autoren, die manchmal dem christlichen Glauben fern standen oder der Spiritualität des Opus Dei eher fremd waren – Philosophen, Psychiater, Dichter –, erschloss sich ihm oft die unvergängliche Wahrheit aus einem neuen Gesichtswinkel und befruchtete sein Gebet und seine Predigt, die sich immer treu an den Sinn der Kirche und an den Geist hielt, den er vom heiligen Josefmaria empfangen hatte. Er war ein Priester, der sein Priestertum liebte; er besaß außerordentliche Gaben und war mit Herz und Verstand katholisch: zutiefst überzeugt von der Universalität der Erlösung durch Jesus Christus, die alle Errungenschaften des menschlichen Geistes zu heilen und zu erheben imstande ist.

Ernst Burkhart, Rom